Hallo Schachfreunde, wir sind noch da! Nach einer für Info-Mail Schach etwas ungewöhnlichen Pause geht es nun wieder zur Sache. Aber in den letzten Tagen und Wochen machten sich wohl die ersten Anzeichen des Sommerlochs bemerkbar. Als Ausgleich dafür ist die Nr. 114 etwas umfangreicher geraten. Bevor wir uns aber der Nr. 114 widmen, ein kurzer Ausblick in die Zukunft. Ab dem 24. Mai findet in Knüllwald (hessen) die Einzelmeisterschaft des DBSB statt und wenig später beginnt an gleicher Stelle auch die Meisterschaft der Damen. Wenn uns die Technik keinen Streich spielt, werden wir direkt aus Knüllwald (evtl. täglich) berichten. Es lohnt sich also, seinen Briefkasten täglich zu leeren. Aber nun zur aktuellen Ausgabe. In der vergangenen Woche fand ein weiteres der Regionalturniere des DBSB statt. Der Spielbezirk Südwest trug seine Meisterschaft in Bad Liebenzell aus. Die komplette Tabelle liegt mir bereits vor (Dank an Birgit Dietsche) und sie wird Punkt 1 der Info-Mail bilden. Im Anschluss daran der Vollständigkeit halber nocheinmal das "amtliche Endergebnis" des Heinz-Reschwamm-Pokals, nachdem nun auch die letzte partie durch Abschätzung beendet wurde. Der Sieger steht ja schon länger fest. In fast allen Newslettern, die ich so kenne, ist es üblich, Werbung einzustreuen. Nicht so bei Info-Mail Schach. Heute wollen wir jedoch eine kleine Ausnahme machen. Da es sich dabei aber um die Neuerscheinung eines Schachbuches in Punktschrift handelt, ist es wohl doch eher eine Information, als Werbung. Die FIDE gibt ihre Ranglisten normalerweise immer am 1. Januar und am 1. Juli eines Jahres heraus. Diesmal wurde (zumindest bei den Top-Spielern) am 1. April eine Rangliste veröffentlicht. Wir listen die Top 25 und nennen die Plätze der bestplatzierten deutschen Spieler. Das Ende der nr. 114 gehört den Leseratten. Wir bringen ein relativ umfangreiches Interview mit "einem der Weltmeister", nämlich mit Vladimir Kramnik. Ich darf mich für heute von Euch verabschieden und ich hoffe zusammen mit Euch auf spannende Partien bei den deutschen Meisterschaften im Blindenschach Viele Grüße von Toni aus Augsburg DBSB - Regionalturnier - Südwest 2001 vom 14.05. - 18.05.2001 in Bad Liebenzell ENDERGEBNIS nach 7 Runden Punkte Buchholz Buchholz 1. Steinhart M Freibeerg 5.5 28.0 20.50 2. Pinnow M Kassel 5.5 28.0 19.50 3. Herma G Rastadt 4.5 26.0 18.50 4. Traub H Heidelberg 4.5 24.5 17.00 5. Asbrand G Darmstadt 4.0 30.0 21.50 6. Keller A Heidelberg 4.0 25.0 19.50 7. Nadj G Waiblingen 4.0 24.5 17.00 8. Schmitt W 3.5 23.0 17.50 9. Bohnet H 3.5 18.5 14.00 10. Mueller U Wheil am Rhein 3.0 25.0 19.50 11. Willhelm M Freiburg 3.0 24.0 18.50 12. Dietsche B Böblingen 2.0 23.0 17.50 13. Traub M Heidelberg 2.0 22.5 18.00 14. Kramer L Schorndorf 0.0 21.0 15.00 VI. Heinz-Reschwamm-Pokal im Fernschach für Bezirksmannschaften Endstand: 1. Süd 7,5 2. Südwest 5,5 14,5 3. Nord 5,5 14,0 4. West 4,5 5. Ost 3,5 14,5 6. Mitte 3,5 11,0 Nun ist es endlich da. Ab sofort ist in Leipzig in Punktschrift das "Internationale Schachschlüsselbuch der Eröffnungen" erhältlich. Das Buch enthält die sog. ECO-Schlüssel (z.B. C00 - C19 für Französisch) und die Zugfolgen, die zu den Klassifizierungen führen. Das Werk ist vom Exbundestrainer des DSB Samarian verfasst worden und umfasst einen Punktschriftband zum Preis von DM 32,00. Bestellung: Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig Postfach 10 02 45 04002 Leipzig Telefon: 0341 7113-120 (Verkauf) Fax: 0341 7113-125 Die TOP 25 der Weltrangliste - Stand: April/2001 1 Kasparov, Gary.................. g RUS 2822 2 Kramnik, Vladimir............... g RUS 2802 3 Anand, Viswanathan.............. g IND 2794 4 Adams, Michael.................. g ENG 2750 5 Morozevich, Alexander........... g RUS 2749 6 Leko, Peter..................... g HUN 2739 7 Ivanchuk, Vassily............... g UKR 2731 8 Shirov, Alexei.................. g ESP 2727 9 Gelfand, Boris.................. g ISR 2712 10 Bareev, Evgeny.................. g RUS 2709 11 Topalov, Veselin................ g BUL 2707 12 Svidler, Peter.................. g RUS 2695 13 Karpov, Anatoly................. g RUS 2693 14 Kasimdzhanov, Rustam............ g UZB 2693 15 Smirin, Ilia.................... g ISR 2691 16 Khalifman, Alexander............ g RUS 2690 17 Gurevich, Mikhail............... g BEL 2688 18 Dreev, Alexey................... g RUS 2685 19 Bologan, Viktor................. g MDA 2676 20 Georgiev, Kiril................. g BUL 2676 21 Polgar, Judit (GM) w ........... g HUN 2676 22 Short, Nigel D.................. g ENG 2676 23 Ponomariov, Ruslan.............. g UKR 2673 24 Tkachiev, Vladislav............. g FRA 2672 25 Ye, Jiangchuan.................. g CHN 2671 Im Vergleich zum Monat Januar gab es keine gravierenden Veränderungen. Die Kräfteverhältnisse an der Spitze sind in etwa gleich geblieben. Immerhin fällt auf, dass der Weltverband FIDE zwischenzeitlich doch das Kasparow-Kramnik Match gewertet hat. Unter den TOP 20 sind acht Russen und immerhin 14 Spieler aus der ehemaligen Sowjetunion vertreten. Erfreulich aus deutscher Sicht: Artur Jussupow gewann 35 ELO-Punkte hinzu und verbesserte sich um mehr als 30 Plätze. Die besten Deutschen sind: Alexander Graf (Platz 38, 2649) Artur Jussupow (Platz 40, 2645) Rustem Dautov (Platz 54, 2631) Dr.Robert Hübner (Platz 66, 2616) Christopher Lutz (Platz 67, 2614) Igor Khenkin (Platz 75, 2609) Interview mit Weltmeister Vladimir Kramnik von Wolfram Runkel " Ok. Sonntag 15 Uhr. Raphael." Wladimir Kramnik spricht über sein Handy, als gebe er einen Zug beim Blindschach durch. Im Raphael, einem großen, aber feinem Pariser Palasthotel, macht der neue Weltmeister Urlaub. Der Arc de Triumphe steht vor der Haustür. Im Foyer hängt ein echter Turner, und es herrscht um drei Uhr nachmittags eine Stille wie im Louvre um Mitternacht. Stil und Stille sind teuer. Das Einzelzimmer kostet 750 Mark, eine Suite 3000. Ein Hausdiener geleitet mich zu Kramniks Ferien-Suite. Wladimir Kramnik , Sohn einer russischen Künstlerfamilie, ist der 14. Weltmeister der Schachgeschichte seit Wilhelm Steinitz (1886 - 1894). Kramnik holte sich den Titel im November 2000 in London von dem seit 15 Jahre herrschenden, scheinbar unbesiegbaren, Schachhaudegen Garry Kasparow, den er in einen Match über 16 Partien psychologisch flachlegte. (DIE ZEIT, Nr...) Außer dem Titel erhielt der 25jährige Kramnik ein Preisgeld von 1,333333 Millionen US-Dollar. Der Hausdiener klopft. Der Weltmeister - gepflegter grauer Anzug , offenes blaues Hemd - streckt die Schachhand aus, sagt "Good Afternoon" und weist mir einen Polstersessel zu. Die Suite besteht aus zwei großen , hohen Räumen, der eine mit einem zentralen Himmelbett, der andere ein Salon in rötlichen Tönen. Auf dem langen Mitteltisch liegen Papiere, Portemonnaie, Schlüssel, weitere Hosentascheninhalte, zwei Handys. Nirgendwo ein Schachbrett. Wolfram Runkel: Schachspielen scheint sich zu lohnen . Es hat Ihnen Ruhm und Reichtum gebracht. Macht Weltmeistersein Spaß? Kramnik: Ruhm und Reichtum sind nicht wichtig. Aber mit dem Titel Weltmeister habe ich mein höchstes persönliches Ziel erreicht, das Maximum in meiner Branche. Das ist ein sehr befriedigendes Gefühl. Aber ich leide immer noch unter körperlichen Nachwirkungen dieses Matches. Ich schlafe schlecht. Ich komme nicht zur Ruhe. ( Das Telefon läutet zum dritten Mal in zehn Minuten.) Kramnik richtet seinen Zeigefinger in Richtung Apparat und lächelt: "Da hören Sie meine Antwort. Das Telefon klingelt zu oft. Ich habe zu viel Stress. Interviews, Sponsorenmeetings, Turniere. WR: Was machen Sie hier? Kramnik: Urlaub vom Schach. Ich bin ausgelaugt. Ich erhole mich hier. Ich liebe Paris. Nächste Woche fahre ich weiter. Vielleicht nach Spanien. Ich bin ein Reisender. In meiner Wohnung in Moskau bin ich nur zwei Monate im Jahr. Mein Zuhause ist überall. WR: Auf dem Januar-Turnier in Wijk an Zee wurden Sie nur dritter. Hinter dem Exweltmeister Garry Kasparow und dem anderen ,(dem Fide-)Weltmeister Viswanathan Anand. Kasparow attackierte Sie nach seinem Sieg auf einer Pressekonferenz: Sie würden Ihrer Aufgabe als Weltmeister nicht gerecht. Ihre Schach-Performance sei durchschnittlich. Sie täten auch sonst nichts für das Schach, beispielsweise Geldgeber und Veranstalter von Turnieren aufzutreiben. Unter Ihnen würde das Schach verkümmern. Kramnik: Es ist wahr, meine schachsportliche Vorstellung seit dem Matchgewinn ist nicht sehr überzeugend. Ich bin in schlechter Form. Ich hatte keine richtige Erholungsphase. WR: War Schachspielen in Wijk an Zee eine Qual? Kramnik: Nein, wenn es eine Qual ist, kann ich nicht spielen. Es war sogar noch eine gewisse Freude da. Die ist immer da beim Schach. Aber ich litt, weil ich merkte, dass ich nicht so gut war wie sonst. WR: Mangelte es an Kreativität ? Kramnik. Nein, die Ideen waren da. Aber ich konnte sie nicht so gut organisieren. Konzentrationsprobleme. Ich konnte beispielsweise auch nicht so tief und genau rechnen. WR: Wie steht es mit Kasparows anderem Vorwurf: Sie kümmern sich nicht um die Zukunft, er meint die Vermarktung des Schach? Kramnik: Ich habe viele Gespräche mit möglichen Sponsoren geführt. Was hat Garry nach dem Gewinn des Titels 1985 getan? Er hat eine Kampagne gegen ein Revanche-Match gegen Karpow gestartet. Seine Werbeaktionen für das Schach begann er erst ein paar Jahre später. Garrys Angriffe gegen mich erkläre ich mir mit seinem Frust über den Titelverlust. WR: Apropos Re-Match. Kasparow sagt, Sie kneifen. Kramnik: Er hat selbst für die Abschaffung d er Re-Matches gekämpft. Nach seinen eigenen Wünschen von damals müsste er sich als Herausforderer in speziellen Kandidatenturnieren qualifizieren. Aber ich wäre auch zu einem Re-Match bereit. In einem Jahr oder so. Nur muss ich nicht auch noch den Sponsor dafür suchen. Das muss schon der machen, der ein Sonderrecht beansprucht. Die Schachspieler sind alle gegen Re-Matches. Sie wollen einen Qualifikations-Zyklus, in dem jeder seine Chance hat. Nur Matchverlierer wollen Gratis-Revanchen. WR: Wie steht s mit Ihrem Konkurrenz-Weltmeister Anand? Sind Sie der Weltmeister oder nur einer von zwei Weltmeistern? Kramnik: Nun, ich halte meinen Titel für den wertvolleren. Es ist ein Unterschied, das Ko.-Turnier der Fide zu gewinnen, bei dem Glück und Zufall eine große Rolle spielen, oder in einem 16-Partien-Match den unbestritten stärksten Spieler der Welt zu schlagen. Der Fide-Titel ist ok. Aber ich halte meinen Titel für den wahren Titel, der außerdem in der Geschichte der Weltmeisterschaften begründet ist. Diese Geschichte ist älter als die Fide. WR: Würden Sie ein Entscheidungs-Match gegen Anand spielen? Kramnik: Wenn die Fide mitmacht und die Bedingungen stimmen, warum nicht? Aber nicht als sogenannten Prestige-Kampf, wie die Fide will. Wenn, dann muss es um den definitiven Weltmeistertitel gehen. WR: Noch einmal zurück zum Kasparow-Match? Fast niemand hatte Ihren Sieg erwartet, und Kasparow ist laut Elo-Wertung noch immer der stärkste Meister der Welt. War er in dem Match außer Form? Oder haben Sie ihn psychologisch außer Form gebracht? Kramnik: Ich habe mich psychologisch besser auf das Match vorbereitet als er. Ich fühle, dass im Schach eine Menge Psychologie steckt. Jeder Schachspieler hat seinen Stil, der seinen Charakter spiegelt. Um in einem mehrwöchigen Match einen Menschen vom Kaliber Kasparows zu schlagen, muss man ihn sehr genau kennen. Man muss auch seine persönlichen Schwächen kennen und ausnutzen. Ich kenne ihn gut. Er war mein Lehrer und ich war sein Sekundant. WR: Was sind das zum Beispiel für Schwächen? Was haben Sie konkret psychologisch unternommen? Kramnik: Ich werden keine Einzelheiten erzählen. WR: Sie wollen vor dem möglichen Revanche-Match keine Tricks verraten? Kramnik: Es geht nicht um Tricks. Ich habe nichts unkorrektes getan. Kein Psycho-Terror. Generell gilt: Ich habe keine Angst vor Kasparow. Weder vor seiner Power auf dem Brett noch dahinter. Ich fürchte nicht seine Grimassen und seine Körpersprache. Er macht das bei mir auch gar nicht. WR: Kasparow halte ich für eigensinnig und rechthaberisch. Haben Sie zum Beispiel damit gerechnet, dass er sich immer wieder vergeblich an Ihrer Berliner Verteidigung , der "Berliner Mauer", die Zähne ausbeißt.? Kramnik: Ja, er weiß, dass ich ihm mit dieser Eröffnung ein etwas besseres Endspiel anbiete. Deshalb ist es eine Herausforderung für ihn, mir und sich zu beweisen, dass er dieses Endspiel gewinnt. Er sieht nicht ein, dass ich diese Stellungen besser verstehe als er. In Wijk an Zee hat er es wieder versucht. Da konnte ich mir sogar einen Patzerzug erlauben, den er nicht schnell genug als solchen erkannt und ausgenutzt hat. WR: Sie haben ihn also mehrmals in eine Stellung, die Sie besser verstehen als er, gelockt, indem Sie auf seinen Eigensinn setzten. Kürzlich wurde auf dem Potsdamer Symposium über den bisher einzigen deutschen Weltmeister Emanuel Lasker viel über Psychologie im Schach diskutiert, weil Lasker ja angeblich der erste war, der sie angewendet hat. Der deutsche Großmeister Robert Hübner bezweifelte in einer Rede den Sinn psychologischer Überlegungen im Schach generell und bei Lasker im besonderen. Allerdings hat Lasker tatsächlich in praktischen Anweisungen für erfolgreiches Spielen unter anderem empfohlen: " Zermürbung des Gegners durch Ausnutzung seiner psychischen Schwächen." Im Wettkampf gegen Tarrasch setzte er nach eigener Aussage auf Tarraschs Risikoscheue und Prinzipientreue und machte zum Beispiel in der zweiten Partie des Wettkampfes 1908 objektiv zweifelhafte Züge, die sich aber gegen diesen Gegner bewährten. Ist Lasker ein Vorbild von Ihnen? Schließlich haben Sie auch seine Berliner Verteidigung adaptiert. Kramnik: Meine psychologische Sichtweise des Schach entspringt eigenen Gefühlen, nicht den Erfahrungen anderer. Die Berliner Verteidigung habe ich gespielt , weil ich sie für eine ideale Waffe für mich gegen Kasparow halte. WR: Wieso? Kramnik: Schachspieler sind wie Künstler, Maler, die die gleiche Sache verschieden sehen. Jeder malt seine Partien in seinem Stil , wie Karpow, wie Kasparow, wie ich. In der Schachpartie kommt der sportliche Aspekt dazu. Jeder will dem anderen seinen Stil aufzwingen. Das ist mir im Match mit Kasparow zum Beispiel mit der Berliner Verteidigung gelungen Manchmal vermischen sich die beiden Stile zu einer besonders interessanten oder schönen Partie. WR: Was ist Schönheit im Schach? Kramnik: Ich kann das nicht erklären. Ich kann es eigentlich nur fühlen. Es ist Harmonie. Eine bestimmte Art von Harmonie, die ich auch in einer chaotischen Stellung erkennen kann. WR: Die von Ihnen gegen Kasparow immer wieder fabrizierte Stellung nach dem Damentausch in der Berliner Verteidigung finden die meisten Schachliebhaber hässlich. Kramnik: Viele Leute finden auch Picassos Bilder hässlich. WR: Kasparow sagt, Sie gehören als Schachspieler zur Dow-Jones-Generation, der die Schönheit nichts, der praktische Erfolg alles bedeutet. Kramnik: Das ist Unsinn, der Frust des Verlierers. Ich halte eine solche Bemerkung auch für respektlos gegenüber seinen Kollegen. Sie haben alle wie gesagt ihren individuellen Stil, mit dem sie gewinnen wollen. In der Pressekonferenz nach der siebten Partie sagte er übrigens: "Es kommt bei einem WM-Match nicht darauf an, wie schön man spielt, sondern darauf, ob man gewinnt oder verliert". WR: Was ist für Sie wichtiger: zu gewinnen oder eine schöne Partie zu schaffen? Sind Sie in Ihrem Beruf eher Sportler oder Künstler? Kramnik: Das kann ich nicht trennen. Das ist als würden Sie mich fragen: Wer ist wichtiger: Eltern oder Bruder ? Beides ist wichtig, aber in nicht Konkurrenz, sondern im Zusammenspiel. WR: Ob schön oder nicht, Sie haben jedenfalls gewonnen. Das jahrelange, oft mühevolle Schachtraining mit Menschen und Computern hat sich für das Schachtalent Kramnik ausgezahlt. Zahlt sich Schachleidenschaft auch für Normalbegabungen aus, für die Millionen Schachspieler in der Welt, die nie einen Preis gewinnen? Kramnik: Natürlich. Schach ist das einzige Vergnügen - zum Beispiel zu einem Barbesuch- , das gesund und nützlich ist. Es ist nicht nur Jogging fürs Gehirn. Wer sein Schach, das ja ein Modell des Lebens darstellt, strategisch verbessert, wird auch bessere Strategien für sein Leben entwickeln. WR: Zum Beispiel? Kramnik: Man organisiert sein Leben besser. Weil man alle Aktionen plant und mögliche Gegenaktionen seiner Partner berücksichtigen muss. WR: Also, die Frage: "Soll ich diese Frau heiraten?" kann ich leichter entscheiden, weil ich gelernt habe, zu entscheiden: "Soll ich diesen Bauern schlagen?" Kramnik: Also, über die Frage, ob ich eine Frau heiraten soll oder nicht, muß ich nicht nachdenken. Das entscheiden meine Gefühle. Aber im Geschäftsleben kann Planung und Struktur der Gedanken und Erwägung aller Konsequenzen sehr viel Erfolg bringen. Jeder weiß, war er will, aber nicht, wie er das Ziel erreichen soll. Schachgeister wissen auch das wie. Sie bringen Ordnung in das Chaos. WR: Mir erscheint es eher, als wäre das Gegenteil richtig. Wie Sie wissen, gibt es jede Menge Schachspieler, die in ihrem Alltag eher unordentlich und besonders unorganisiert leben., Schachmeister, die geradezu unfähig sind, ihr Leben zu meistern. Sie haben Unordnung in ihren Räumen und in ihren Köpfen. Kramnik: Das gibt es tatsächlich. Schach hat nicht nur den Ordnungsfaktor, sondern es ist auch Kunst. Die Spieler sind auch Künstler, denen ja oft eine bestimmte Ordnung im Leben unwichtig oder sogar unangenehm ist. Ich meine nur, wer Ordnung mag , dem wird Schach es leichter machen, seinen Alltag zu organisieren. Auch ich habe manchmal Unordnung in meinem Raum. ( blickt auf sein Kleinkram-Chaos auf dem Tisch), aber wenn ich Ordnung brauche, kann ich sie leicht herstellen. WR: Kasparow sagte mir einmal, damals als seine erste Ehe gerade zerbrach: Im Leben herrscht Chaos und auf den Schachbrett herrscht Chaos. Auf dem Brett kann ich Ordnung schaffen, im Leben nicht. Auch Lasker sieht im Schach keinen Modellcharakter für das Leben: "Auf dem Schachbrett der Meister gelten Lüge und Heuchelei (die ja zum menschlichen Lebensalltag gehören) nicht lange." Kramnik: Das ist richtig. Darum liebe ich Schach wahrscheinlich so. WR: Glauben Sie, dass Schach hilft , sich auch im Leben schneller zu entscheiden, weil man etwa die Uhr im Hinterkopf ticken hört? Kann es sein, dass Schachspieler leichter die Verantwortung für schlechte und falsche Entscheidungen übernehmen? Kramnik: Natürlich. Man lernt, dass man handeln muss, auch wenn die Wahl - dieser Zug oder jener - schwer fällt. Man muss sich innerhalb der Bedenkzeit entscheiden. Und man muss die Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Es hat keinen Sinn, seinen Fehler zu bedauern oder einer verpassten Gelegenheit nachzutrauern. Man muss zu dem schwachen Zug stehen und das beste daraus machen. Wladimir Kramnik wurde am 25. 6. 1975 als Sohn eines Bildhauers und einer Klavierlehrerin in Tuapse am Schwarzen Meer geboren. Er lernte Schach als Fünfjähriger vom Vater. Mit 12 war er Jugendmeister in der UdSSR , 1991 Jugendweltmeister. Von 1992 bis 1997 lebte er in Berlin und spielte für Empor Berlin in der Schachbundesliga.