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Info-Mail Schach Nr. 274


Hallo Schachfreunde,
nach dem Endstand des Dortmunder Großmeisterturniers in der letzten Ausgabe
folgen heute einige Einzelheiten zum Turnierverlauf. Aufhänger ist ein
Bericht über den jüngsten deutschen Großmeister Arkadiy Naiditsch.
Einzelheiten zu der im Text erwähnten Fernsehsendung:
Schach der Großmeister 2003 - 20 Jahre 1983-2003
WDR in der Nacht von Montag, 18.08. auf Dienstag, 19.08 von 0.35 bis 2.50
Uhr
Viel Spaß beim Fernsehen - wieder zu einer richtig zuschauerfreundlichen
Zeit - oder auch nur beim Lesen wünscht
Herbert Lang

Übrigens - Uli Stein meint - "Regelmäßiges Versagen ist auch eine Form der
Zuverlässigkeit"

Ein 17-jähriger Großmeister ohne Euphorie - von FM Hartmut Metz, August 2003
"Ich bin nie zufrieden und habe kein gutes Resultat erzielt." Arkadij
Naiditsch zeigt erstaunlich wenig Euphorie für einen 17-Jährigen, der gerade
bei den Dortmunder Schachtagen die vier Partien gegen Weltmeister Wladimir
Kramnik (Russland) und dessen Herausforderer Peter Leko (Ungarn)
ungeschlagen überstand. Sicher, gegen Kramnik "lief es super" und die zwei
Remis seien auch "ein tolles Gefühl" gewesen, doch mehr wurmt den Dortmunder
Lokalmatador bei seinem ersten Auftritt in der Elite die Niederlage gegen
Ex-Weltmeister Viswanathan Anand (Indien). "Der war nach seinem Fehlstart
angeschlagen - und dann verliere ich nahezu kampflos gegen ihn."
   Das derzeit größte Talent des Deutschen Schachbundes (DSB) ebnete zudem
Viorel Bologan den Weg zum Sensationssieg. Dem 31-jährigen Moldawier, der
sich mit einem Erfolg beim Aeroflot-Open in Moskau für das
Grand-Slam-Turnier qualifiziert hatte, unterlag Naiditsch zweimal. Mit
6,5:3,5 Punkten beendete der Weltranglisten-42. überraschend die Serie des
sechsfachen Dortmund-Gewinners Kramnik, der mit Anand (beide 5,5:4,5) Platz
zwei belegte. Bologan hatte sich vor den Schachtagen erstaunlicherweise
weniger mit den Bauern auf dem Brett beschäftigt, als sich selbst als
solcher betätigt: "Wir haben eine Datscha auf der Krim gekauft, und Viorel
hat einen Monat lang die Erde umgepflügt. Er träumt von einem schönen großen
Garten", berichtete seine Ehefrau Margarita.
   Naiditsch wurde hinter Teimour Radjabow (5:5) und Leko (4:6) mit 3,5
Punkten zwar nur Letzter, der Weltranglisten-180. erwies sich aber nicht als
das Schlachtopfer, für das ihn mancher Experte gehalten hatte. Und das trotz
mangelnder Erfahrung gegen die Topleute. "Für mich war das das erste große
Turnier. Radjabow wird schon seit eineinhalb Jahren regelmäßig zu solchen
Wettbewerben eingeladen", verweist der 17-Jährige auf den großen Unterschied
zu dem 16-jährigen Aserbaidschaner. Weitere Vergleiche drängen sich auf,
denn beide eroberten unglaublich früh den Großmeister-Titel: Naiditsch mit
15, Radjabow gar mit 14. Damit befinden sie sich in der Dimension von
Schach-Legenden wie Bobby Fischer und Judit Polgar.
   Ansonsten sind sie gegensätzlich. "Radjabow spielt ganz anderes Schach,
immer spektakulär nach vorne, ich spiele dagegen positionell", erläutert
Naiditsch. Im direkten Duell setzte sich jeder der beiden Turnier-Youngsters
einmal durch. Während der Weltranglisten-45. fest davon überzeugt scheint,
wie der ebenfalls in Baku geborene Garri Kasparow einmal Weltmeister zu
werden, ist sich Naiditsch nicht einmal sicher, ob es ihm zu einem Platz
unter die ersten Zehn langt. "Ach, das mit dem großen Talent ist doch so
eine Sache. Ob es ganz nach oben reicht, ist alles Spekulation", klingt der
gebürtige Rigaer weit weniger enthusiastisch. Versuchen will es der
ehemalige Schüler-Europameister und Vizeweltmeister dennoch. "Ich lasse mich
jetzt ein Jahr vom Unterricht freistellen", berichtet der Elftklässler, "das
kann ich riskieren." Ein guter Schüler sei er ohnehin nie gewesen. "Wenn man
zwei Stunden Eröffnungen paukt, hat man anschließend keine Lust mehr auf
Spanisch-Vokabeln", erklärt der Hobby-Fußballer, der gelegentlich die
Borussen im Westfalenstadion ansieht.
   Trotzdem will Naiditsch an die Gesamtschule zurückkehren, sollte er
keinen Riesensatz nach vorne machen. "Nur als Top-Ten-Spieler kann man gut
vom Schach leben. Alles andere ist zu wenig", weiß Naiditsch. "Wen
interessiert schon die Nummer 50 in der Welt?", ergänzt sein Betreuer Stefan
Koth. "Arkadij muss sehen, ob er künftig Hobbyspieler mit einem geregelten
Beruf und Einkommen wird oder Schach-Profi." Erstes gutes Geld kann sein
Schützling gleich bei "Schach der Großmeister" am 19. August verdienen. In
der WDR-Fernsehsendung trifft Naiditsch auf Jan Timman. Dem ehemaligen
Vizeweltmeister aus den Niederlanden hatte der 17-Jährige schon 2002 bei den
Dortmunder Schachtagen ein 4:4 abgetrotzt.
   Der Rohdiamant muss ansonsten wohl wie in den vergangenen sieben Jahren
seit der Übersiedlung aus Lettland auf Unterstützung seines Vereins
Dortmund-Brackel bauen. Die DSB-Funktionäre warfen Naiditsch und seiner
Familie, in der offenbar auch die drei jüngeren Schwestern vom Vater das
Spiel sehr gut gelehrt bekamen, mehr Knüppel zwischen die Beine, als dass
sie ihr größtes Talent im B-Kader förderten. Dabei bedürfte die überalterte
Nationalmannschaft, in der Christopher Lutz mit 32 der Jüngste ist,
dringender Blutauffrischung. "Vielleicht klappt es endlich 2004 mit der
Einbürgerung", hört sich Naiditsch auch in diesem Fall desillusioniert an.
 

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