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Info-Mail Schach Nr. 840


Mit den Händen sehen
(Quelle: St. Galler Tagblatt)

St.Gallen: 26. Juli 2008, 01:16, ONLINE

Zum erstenmal sind an der Schachweltmeisterschaft der Gehörlosen auch
Taubblinde dabei

Schach zu spielen erfordert höchste Konzentration. Jeder Spielzug muss
genauestens bedacht werden. Wenn man aber taub und dazu auch noch blind ist,
wird
das Spiel zu einer noch grösseren Herausforderung.

Nervös gleiten seine Hände über das Schachbrett. Der Pole Leszek Koczot
tastet jede der 32 Spielfiguren einzeln ab. Er sieht nicht, ob sie schwarz
oder
weiss sind, denn Koczot ist blind. Er ist einer von acht taubblinden
Teilnehmern an der Schachweltmeisterschaft der Gehörlosen, die dieses Jahr
in St.
Gallen stattfindet. Woher die Spieler kommen, erkennt man an den Trikots
ihres Landes; jemand trägt ganz stolz einen Schottenrock.

Spiel gegen die Zeit

Im Raum des Hotel Radisson SAS, wo die Spiele stattfinden, ist es
mucksmäuschenstill. Sprechen ist nicht erlaubt, damit die Spieler sich
konzentrieren können.
Koczot ist unter Zeitdruck. Er hat noch drei Minuten, dann ist seine
Spielzeit abgelaufen. So schnell es geht, tastet er die Figuren immer wieder
ab und
sucht verzweifelt nach einem möglichen Spielzug. Schliesslich kann er seinem
Gegner aus Aserbaidschan den Springer entwenden. Doch das nützt dem Polen
nichts mehr. Die Zeit ist abgelaufen und Koczot muss sich geschlagen geben.
Ganz fair war die Partie nicht: Koczots Gegner war nicht vollständig blind.

Für den Blinden ist das Spielen sehr schwierig. ½Ich muss mir die
Aufstellung des ganzen Feldes im Kopf merken können.» Dies schafft der
55jährige Pole
durch häufiges Trainieren. Er übe mindestens drei Stunden pro Tag. ½Zuerst
muss ich alle Figuren ertasten und mich an alles erinnern können. Danach
muss
ich mir die nächsten Spielzüge überlegen und gleichzeitig auch immer daran
denken, welche Züge mein Gegner machen könnte.» Die Figuren kann Koczot dank
einer Markierung unterscheiden: Die weissen Figuren haben oben eine Spitze.
Auch das Schachbrett ist nicht flach. Die schwarzen Felder sind erhöht.

Koczot hat auch einen Assistenten, der während des gesamten Spiels neben ihm
sitzt. Er führt die Hände des blinden Spielers zu den Figuren und teilt ihm
mit, wie viel Zeit ihm noch bleibt, indem er Koczot die Zahl in die
Handfläche schreibt.

Regeln noch unklar

Die Schachweltmeisterschaft der Gehörlosen gibt es bereits seit den
1950er-Jahren. Seither findet der Anlass alle vier Jahre statt. ½Deshalb
sind die Rahmenbedingungen
für die Gehörlosen klar vorgeschrieben», sagt Gregor Maier, Präsident des
Organisationskomitees. Die Taubblinden sind dieses Jahr aber zum erstenmal
dabei.
Darum gebe es in dieser Kategorie noch keine klaren Regeln dazu, wie viel
jemand noch sehen darf. Deshalb kann es, wie bei Koczot, vorkommen, dass ein
Spieler mehr sieht als der andere. Der Pole hat bis jetzt vier Spiele hinter
sich. ½Leider habe ich noch keines gewonnen.» Vor neun Jahren an der
Europameisterschaft
sei er besser gewesen.

Nach jeder Partie können die 84 Teilnehmer das Spiel im Analyse-Raum
auswerten. ½Hier können alle Spielzüge noch einmal nachgespielt werden, um
zu sehen,
was man strategisch hätte besser machen können», erklärt Maier. Doch Koczot
zieht sich nach dem verlorenen Spiel lieber aufs Zimmer zurück. Er hat noch
drei weitere Partien vor sich in den nächsten Tagen. Die Teilnehmer werden
noch bis zum 31. Juli um den Weltmeistertitel kämpfen.

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