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Info-Mail Schach Nr. 1060


Zeit Online (29.04.2010) - Aus Sofia berichtet Ulrich Stock

Viswanathan Anand geht im Duell gegen Wesselin Topalov erstmals in Führung - 
und wie!
Was für eine Schachweltmeisterschaft! Die Statistiker müssen jetzt in den 
Archiven wühlen, ob es je so einen Start gegeben hat. Drei der ersten vier 
Partien endeten mit Sieg und Niederlage; nur eine endete unentschieden, das 
war am Dienstag. Dieses Remis wurde im weltweiten Besserwisserweb von 
Experten und Oberexperten schnell als öde wegsortiert. Das harsche Urteil 
mag zu tun haben mit der Art und Weise, wie man die Partie miterlebt. Wer 
hier in Sofia im Spielsaal sitzt in Dunkelheit und Stille und dem 
Weltmeister Viswanathan Anand und seinem Herausforderer Wesselin Topalov 
über Stunden beim Gedankenkampf zusieht, der nimmt andere Dinge wahr als 
jene, die auf allen Kontinenten vor ihren Bildschirmen sitzen und sich von 
gleich mehreren Großmeistern das Geschehen erklären lassen und überdies ihre 
analysierenden Schachprogramme zugeschaltet haben.
Keinen Kommentar hört man in dem prunkvollen Saal des Zentralen Militärklubs 
in Sofia. Kein Handy, kein iPhone, kein Laptop darf mit hinein und würde 
angeblich auch nicht funktionieren, weil ein Störsender allen Funkverkehr 
unterbindet. Kaum sind die ersten fünf Minuten vorbei, in denen die 
Fotografen wie wild blitzen, zieht sich eine halbdurchsichtige Gaze von 
rechts nach links zwischen das Publikum und den Schachtisch, und das Licht 
im Saal erlischt.
Aus dem Saal kann man die Bühne noch sehen, wenn auch etwas verschwommen, 
von der Bühne aus sieht man nichts mehr. Die Spieler sollen ohne jede 
Störung bleiben; sie sollen ihren Kampf austragen.
Die erste Partie ging im Hoppla-Hopp-Stil an Topalov, die zweite subtil 
durchtrieben an Anand; beide gewannen mit Weiß. In der dritten Partie musste 
es dem Weltmeister mit Schwarz darum gehen, die Serie zu durchbrechen. Ein 
Remis genügte ihm dazu, und es spricht für sein Können und seine Raffinesse, 
dass er zum Ausbremsen des wilden Angreifers Topalov ausgerechnet eine 
Variante wählte, mit welcher der vorherige Weltmeister Vladimir Kramnik 
schon Topalov hatte auflaufen lassen - vor vier Jahren beim WM-Kampf im 
russischen Elista.
"Eine Partie, die die Welt nicht gebraucht hätte", zürnte der Internationale 
Meister Ilja Schneider Mittwoch früh in seinem Schachwoche-Blog und 
verpasste dem so ungerührt betonierenden Weltmeister zum Dank gleich einen 
neuen Spitznamen: Wishladimir Anandnik.
Spaß muss sein. Aber an Ort und Stelle, wenige Meter von dem Brett, auf dem 
wirklich Figuren bewegt und geschlagen werden, fühlte sich die Sache anders 
an. Anand hatte eine turniertaktische Aufgabe zu lösen, und er löste sie 
bravourös. Das Ergebnis stimmt, er hat mit Schwarz standgehalten, und gerade 
sein Wurschtelschach auf zwei Reihen mit millimeterweisen Läuferzügen war 
Topalov gegenüber die reinste Provokation. Jede andere Spielanlage wäre 
demgegenüber riskant gewesen. Anand will ja nicht nur Budenzauber, er will 
den Titel und das Geld.
Nun öffneten sich am Mittwochnachmittag die Türen zur vierten Runde. Schon 
deutlich vor drei saßen die beiden Gegner am Brett und erduldeten sichtlich 
widerwillig das Verstreichen der letzten Minuten. Die Nervosität war ihnen 
anzumerken. Diesmal gab es eine kurze Begrüßung des Publikums durch die 
Veranstalter, man hat offenbar aus der Kritik an der völligen Formlosigkeit 
der ersten Tage gelernt. Dies ist insofern erstaunlich, als der 
Mitorganisator Silvio Danailov das Hemdsärmlige noch am Dienstag im 
Interview als "bulgarian style" gepriesen hatte: "Wir halten nicht gern 
lange Reden."
Die vierte Partie .  ja, wir machen es jetzt ein wenig spannend. Anand war 
durch das von Unbeteiligten geschmähte Remis in der komfortablen Position, 
mit Weiß befreit aufspielen zu können - und er wählte, keine Überraschung, 
die gleiche Eröffnung wie in der zweiten Partie, Katalanisch. Damit war er 
ja schon erfolgreich gewesen.
Topalov sah sich in der unkomfortablen Lage, mit Schwarz etwas reißen zu 
müssen, ohne es zu überreißen. Aber bei den vielen Stärken, die er hat, ohne 
die er nicht oben in der Weltrangliste stünde, hat er auch Schwächen: Als 
eine gilt die manchmal mangelnde Selbstbezähmung. Er versteht sich als 
kompromissloser Angriffsspieler, wird als solcher vom Publikum geschätzt und 
von stärksten Gegnern gefürchtet - aber dieses "immer nach vorn" kann 
manchmal auch zwanghaft sein. Und wer wollte da schachtherapeutisch tätig 
werden, wenn nicht Dr. Anand?
Anand spendierte den im Katalanen üblichen Bauern, von dem jeder 
mittelbegabte Spieler weiß, dass man ihn nicht gut behaupten kann. Dies 
schien Topalov nun aber vorzuhaben, sicher mit vielen tückischen 
Nebengedanken: Binnen weniger Züge hatte er alle Damenflügelbauern 
vorgezogen, und es ergab sich eine Gemengelage mit vielen 
Schlagmöglichkeiten.
Das Publikum im Saal - es waren übrigens noch weniger Zuschauer als am 
Dienstag, welch ein Jammer - spürte gleich und ohne große 
Eröffnungskenntnis, dass es hier bald zur Sache gehen würde. Beide Spieler 
verbrauchten ungleich mehr Zeit für die ersten Züge als bei allen Partien 
zuvor. Das hatte, wie sie hinterher auf der Pressekonferenz versicherten, 
nichts mit überrascht sein oder mangelnder Vorbereitung zu tun, sondern mit 
der Komplexität der Stellung.
Weiß war gut entwickelt, Schwarz hatte nur einen einsamen Springer auf die 
weite Reise ins feindliche Lager geschickt. Da stand er herum wie ein 
abstaubewilliger Stürmer im Fußball vor dem gegnerischen Tor - aber es muss 
dann von hinten ja doch mal ein Ball kommen.
Hinten sah es nicht gut aus. Als hätte sich Topalov von Anands 
Läuferrundfahrt am Brettrand tags zuvor anstecken lassen, zog er seinen 
Läufer aus der Grundstellung ein Feld vor, um ihn kurz darauf ein Feld 
zurückzuziehen. Sonst nicht so seine Art. Was von seinen Figuren überhaupt 
entwickelt war, stand sich am Damenflügel gegenseitig im Weg.
Anand dagegen hatte sich mit natürlichen Zügen geradezu lehrbuchartig 
aufgebaut. Als alle Figuren ihren optimalen Platz gefunden hatten, stieß er 
im Zentrum mit dem Damenbauern vor. Und auch was dann geschah, illustriert 
klassisches Schachwissen: Wer am einen Brettrand steht, wie hier Topalov, 
hat es weit zum anderen Brettrand. Wer in der Mitte steht, wie hier Anand, 
hat es zu keinem Rand weit. Anand schickte einen Springer zum schutzlosen 
schwarzen Königsflügel und - rumms! -, schlug er rein.
Das war nicht nur objektiv gut, sondern auch psychologisch: Anand machte 
jetzt mit Topalov, was der mit ihm in der ersten Runde gemacht hatte. Der 
weiße Springer war weg, die schwarzen Königsbauern nicht mehr zu sehen, 
dafür der schwarze König aber sehr gut: Er stand im Hemd und im Wind, 
vis-à-vis der weißen Dame.
Im bulgarischen Topalov-Stil brachte Anand die Partie zu Ende. Munter 
opferte er erst noch einen Läufer und warf ihm einen Bauern hinterher, 
Topalov versuchte es mit Gegenopfern, aber es half alles nichts. Im 32. Zug 
reichte er die Hand übers Brett: Aufgabe, denn das Matt war nicht mehr 
abzuwenden.
Nun liegt Anand einen Punkt in Führung. Der Donnerstag ist spielfrei, am 
Freitag beginnt das zweite Drittel dieses außergewöhnlichen Matches.
"Was machen Sie am Ruhetag?", fragte ein Journalist auf der Pressekonferenz. 
Topalov antwortete so leise, es war nicht zu verstehen.
(Copyright: ZEIT ONLINE )

Anand,Viswanathan (2787) - Topalov,Veselin (2805) [E04]
World Chess Chamionship Sofia/Bulgaria (4), 28.04.2010
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 d5 4.g3 dxc4 5.Lg2 Lb4+ 6.Ld2 a5 7.Dc2 Lxd2+ 8.Dxd2 
c6 9.a4 b5 10.Sa3 Ld7 11.Se5 Sd5 12.e4 Sb4 13.0-0 0-0 14.Tfd1 Le8 15.d5 Dd6 
16.Sg4 Dc5 17.Se3 S8a6 18.dxc6 bxa4 19.Saxc4 Lxc6 20.Tac1 h6 21.Sd6 Da7 
22.Sg4 Tad8 23.Sxh6+ gxh6 24.Dxh6 f6 25.e5 Lxg2 26.exf6 Txd6 27.Txd6 Le4 
28.Txe6 Sd3 29.Tc2 Dh7 30.f7+ Dxf7 31.Txe4 Df5 32.Te7 1-0 

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